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Neo-Kontraktualismus

Imke Felicitas Gerhardt

Neo-Kontraktualismus
Oder: über den in Performanz geschlossene Pakt der Vertragslosen 

Das Stück Hiding in Plain Sight persifliert die Satzung des neoliberalen Gesellschaftsvertrags

Im Anfang der westlichen Moderne war die Idee; und die Idee war ein Vertrag. Die westliche Gesellschaft ist durch diesen Vertrag geworden; jenen, der die Individuen verband, ja aus dieser Verbindung in Wirklichkeit erst entstand — erst enstanden sind dabei wiederum diese modernen Individuen, deren neu erlangte Autonomie in ihm wurzeln. Es war der Glaube an eine Freiheit, durch die „Unterwerfung aller unter jeden und eines jeden unter alle.” Doch das in Wahrheit exkludierende Wesen dieses Postulats hat sich über das generische Maskulinum in die Satzung und damit tief in die westliche Gesellschaft hineingeschrieben. Der moderne Kontraktualismus, das waren vor allem weiße Männer, die für ihresgleichen eine ideale Gemeinschaft imaginierten: Hobbes, Locke, Rousseau. Vom absolutistischen Charakter des Leviathans einmal abgesehen, begründet sich in diesen Schriften die Konzeption des bürgerlich-liberalen Verfassungsstaats, der die Auffassung vom Bürger und seinen Rechten manifestiert und dabei Subjekt und Objekt, respektive Mann und Frau dualistisch definiert: Man(n) schafft damit Abhängigkeiten in seiner imaginierten Unabhängigkeit. 

Über die Fiktion eines (vergangenen) Naturzustands wird die in Frieden erstrahlende Zukunft einer neuen Gesellschaft erdacht, die sich auf Zusammenhalt beruft, und doch, und vielleicht vielmehr, auf den ignorierten Grenzen, die sie zieht, ihr Fundament errichtet. Gezogen wird entlang der sich dabei naturalisierenden Opposition der Geschlechter eine Grenze zwischen Öffentlich und Privat — eingepfercht wird die Frau in ihrer unbezahlten reproduktiven Zelle. Dieser Bürger, den die Gesellschaftsverträge imaginieren ist weiß und männlich, und er bleibt weiß und männlich bis ins 20. Jahrhundert hinein. Die Frau hingegen bleibt rechtlos — bürgerrechtslos — sie ist der Nicht-Bürger, der die bürgerliche Gesellschaft in ihrem Fortbestehen sichert. Gesichert ist dabei für alle Zeiten der Kapitalismus, dem der Liberalismus seit je als Ideologie dient. 

Wer (ver)dient im Neoliberalismus?

Schweigende Körper einsamer Seelen 

Regungslos auf einer Yoga-Matte liegend: ein Körper, in einer Leere, in einer Stille. Still wird auch das in einigem Abstand zu ihm sitzende, ihn betrachtende Publikum, in dem Bedürfnis diesen Körper zu erfassen. Im Hintergrund, wiederum das Publikum in den Blick nehmend, ist das Gesicht eines jungen Mannes überdimensional an die Rückwand projiziert. Büstenartig ist der Ausschnitt, der die Nacktheit seines Körpers andeutet, die sich jedoch der vollen Ansicht durch das Publikum entzieht. Vielmehr werden die Betrachtenden betrachtet, werden regelrecht durchdrungen von seinem regungslosen und intensiven Blick. Ein dystopischer Anklang an Orwells Großen Bruder, vor allem als plötzlich, in die Stille hinein, eine Stimme aus dem Off erklingt. Über die Augen in den Blick, und über die Stimme in die Hörigkeit genommen, fordert der verdoppelte Imperativ (Stimme/Blick) das Publikum dazu auf den Vertrag zu lesen und zu unterzeichnen, welchen sie unter ihren Stühlen vorfinden. Es ist der Mitgliedschaftsvertrag der Svoya Partei. Svoya, ein Akronym, oder vielleicht Synonym? für die neoliberale Gesellschaft: Symbolically Violent Overworked Young Artists. Und so scheint dem Unterzeichnen und damit Bestätigen der vertraglichen Konditionen, die da beispielweise lauten: In diesem Kalenderjahr haben Sie schon mindestens 2 Burnouts erlebt, oder: Sie können keine aktuellen Arbeitsverträge nachweisen, selbst wenn Sie arbeiten, beinahe ein kathartischer Moment zu Teil zu werden. Sich individuell verstanden wissen von einer Partei, die die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer Breite versteht? — das sind doch für gewöhnlich Volkspartei-Qualitäten? Jene über ihren Zerfall klagenden alten Volksparteien, deren Fundament wegen der verstärkten Polarisierung, Atomisierung und Hyper-Individualisierung der Gesellschaft bröckelt, versuchen verzweifelt die eigenwilligen Zähler auf einen Nenner zu bringen. Doch wie entsteht Übereinstimmung, ein über die Teilung hinweg, geteiltes Verständnis? Wie entsteht das gesellschaftsvertragliches Band, dass die Subjekte unsichtbar verbindet? — Wenn im Neoliberalismus die Einzigartigkeit zur Norm und damit das Konkurrieren zum alltäglichen Handlungsmodus wird? 

Unsichtbare Verbindung entbindender Individuation 

Weder schriftlich kodiert, noch mit einer bindenden Unterschrift signiert — wie soll auch das Subjekt unterschreiben, wenn es erst über den Eintritt in den Vertrag Identität erhhält? — ist ein Gesellschaftsvertrag vielmehr performativ zu verstehen. Zu verstehen vielleicht über die geteilten Rhythmen und gesellschaftlichen Konventionen, über Handlungen also und ihren Wiederholungen, die den Vertrag immer wieder aufs Neue herstellen und reproduzieren. Und zerbricht die heutige Gesellschaft deshalb, weil wir selten nur noch gemeinsam Handeln, oder im Kollektiv performen? Die Betonung der Singularität in jeglicher (Selbst)repräsentation scheint das Band der Gemeinschaft unwiderbringlich zu zerstören. Aber vielleicht Teilen wir auch einfach nur Gemeinsamkeiten, die sich dem unmittelbar Sichtbaren entziehen? Eine Verbundenheit scheint es, auch wenn das Bündnis im Unsichtbaren verborgen, doch zu geben: denn der gemeinsame Nenner, der ruht eben nicht auf dem repräsentierten Teil der Identität, auf dem Positiv(en), sondern auf dem dunklen Negativ(en). Der gemeinsame Nenner, dass sind die individuellen, aber in ihren hemmenden Auswirkungen mehrheitlich geteilten Ängste, die Depressionen, die individuell, aber mehrheitlich die gesellschaftlichen Rhythmen prägen. Es ist dies die Verbundenheit der Ausgebrannten. Und ist der Svoya Mitgliedschaftsvertrag dann nicht die Ausformulierung eines Vertrags, der die neoliberale Gesellschaft schon sehr lange unsichtbar verbindet? 

Die Grammatik der Körper. Die Satzung des Vertrags 

Nachdem die unbekannte Stimme aus dem Off die Unterzeichnung des Vertrags fordert, erklärt sie  das Mitglieder-Training für die neuen Parteizugänge für begonnen. Zuerst wird der Fokus auf das gelenkt, was sich der bewussten Wahrnehmung entzieht: etwa das Blinzeln der Augen, das Atmen, oder wie die Spucke langsam durch die Speißeröhre rinnt. Dieses Training mag Anspielen auf all die ökonomisch verwerteten Achtsamkeitsübungen, all den Inszenierungen der Selbstoptimierung, den performten healthy-lifestyles, die den gegenwärtigen Gesellschaftsvertrag mit-konstituieren und kontinuierlich reproduzieren. Bei Svoya, wo das Training Bedingung der Parteimitgliedschaft ist, entblößt sich der zwanghafte Charakter dieser täglichen Performances. Über die dominante Stimme, die aus dem Off das Ein- und Ausatmen streng rhythmisiert, wird der eigene innere Befehlshaber entlarvt, der von Anbeginn den Äußeren internalisierte und unermüdlich zur Selbstoptimierung treibt. Als die Stimme verstummt, erwacht der Körper. Bisher regungslos auf der Yoga Matte liegend, beginnt er sich in langsamen, aber mit kraftvoll bestimmten Bewegungen zu erheben. Klare Linien, Direktive. Der Körper in einer Struktur, als Struktur, strukturgebend. Es scheint als entwickle die Performerin Sophia Seiss eine eigene Grammatik und darauf basierend, ein sich wiederholendes Vokabular, das tatsächlich später von ihren Co-Performer*innen aufgegriffen und bestätigend wiederholt wird. Mal gemeinsam und zeitweilig synchron, mal individuell ausgeführt, wiederholen sich Bewegungen dieser klar kodierten Anfangssequenz. Es ist die performative Hervorbringung und Bestätigung des Svoya-Vertrags. 

Zeichenflut. Überflutet. Flaute

Jede Bewegung von Sophia wird in ihrer Emphase zum Zeichen und spielt damit indirekt auf die Hyperinflation von Zeichen an, die in ihrer ökonomischen Verwertbarkeit die Gesellschaft bestimmen, wie Jean Baudrillard bereits 1981, also vor der Bilder- und Zeichenflut des Internets, in seiner Schrift For a critique of the political economy of the sign konstatiert. Zeichen, die zirkulieren und dabei ein Simulacrum , eine Hyperrealität schaffen. Auf diese anspielend, gibt sich auch die Svoya Performance dem Zeichenspiel hin: Einige Minuten später kommen drei weitere Performer*innen [Vitalii, Yana, Véronique] mit ihren Yogamatten in den Raum. Auf die Rückwand desselben werden nun in schneller Abfolge Videos projiziert: YouTube Tutorials und und kurze ‘trashy’ Home Videos deren Selektion und deren Inhalt absolut zufällig erscheinen. Der Blick des Publikums schweift konstant zur überdimensionalen Video-Projektion auf der Rückwand des Raumes, die seine Aufmerksamkeit fordert. Die Performer*innen versuchen wiederum die vor allem sportlichen Tutorials live auszuführen (Home-Workout). Ihre Körper sind dabei dem Publikum zugewandt, ihre Blicke richten sich jedoch auf einen Bildschirm, der, vor dem Publikum auf dem Boden installiert, ebenfalls die Videos abspielt. Daraus ergibt sich eine eigenartig chiastische Blickdynamik, bei der die Körper und Augen der Performer*innen und des Publikums räumlich einander zu-, aber über die Bildschirme voneinander abgelenkt werden. Körper in einem geteiltem physischen Raum werden aufgeteilt in virtuelle Räume, in denen sich ihre Präsenzen verlieren. Die kurzen und schnell aufeinanderfolgenden Video-Sequenzen führen im Verhältnis zur leicht verzögerten körperlichen Ausführung der Performer*innen zu einer zeitlichen Verzerrung. In der Schwierigkeit, die zum Teil absurden Übungen simultan umzusetzen, entsteht eine gewisse Hetze, die das ganze Spektakel albern erscheinen lässt. Hinterherrennende Körper, die vor der Schnelligkeit der Video-Abfolge ebenso kapitulieren, wie Augen vor dem akzellerierten News-Feed. Hier sieht das Publikum die Kapitulation disziplinierter Körper vor dem Nordkoreanischen Stechschritt. Die Nebeneinanderstellung von Videos in denen Menschen durch Yoga-Übungen ihre Körper stählen und militärischen Übungen, wo der Körper gedrillt und optimiert wird, lässt nicht nur Überschneidungen in der physischen Praxis erkennen, sondern verweist auf die Strenge der Selbstdisziplinierung, den Druck der Selbstoptimierung, die die gegenwärtige Gesellschaft dem einzelnen Subjekt als Bedingung für seine Anerkennung abverlangt. Diese Sequenz des Stücks endet mit einer Achtsamkeitsübung, dem Shavasana. Auf der Rückwand wird nun ein tropischer Wasserfall sichtbar, der zur Meditation, zur temporären Enstpannung einlädt, die im Anschluss zu einer gesteigerten Leistung führen soll. Natürlich verweist die gezeigte Flut an Amateur-Videos auf den Zwang, das Selbst nicht nur zu optimieren, sondern dies der Gesellschaft auch zu präsentieren. Dabei wird erneut ersichtlich, dass die digitale Selbstinszenierung der eigenen Leistung zwar mit dem Ziel der Singularisierung erfolgt — die Rhythmen, die Ästhetiken, die Zeichen die dabei entstehen, sich aber, weil gegenseitig kopierend (denn copy&share ist nunmal die Grundstruktur des Internets), zumindest innerhalb der eigenen Echo-Kammer homogenisieren. Den Vertrag, den die neoliberale Gesellschaft unterschreibt, indem er sich in die erschöpften Körper einschreibt, entsteht über die Rhythmen der Selbstoptimierung — das unsichtbare Band, das die individualisierte Gesellschaft verbindet, ist das geteilte Leid diese Rhythmen bis zur Erschöpfung zu befolgen. Véronique, die im Anschluss, als die anderen Performer*innen den Raum verlassen minutenlang im Kreis rennt und über ihre Erschöpfung und ihr am Morgen zu-Einnehmen-vergessenes Kurkuma klagt, wird dabei zum Sinnbild dieser Gesellschaft. Generell gelingt es dem Stück die Dynamik zwischen exzessiver körperlicher Verausgabung und Effizienz-steigernden Ruhephasen perfekt in ihrem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zu inszenieren. Vermutlich liegt die wahre Gefahr auch im beschleunigten Rhythmus des Alternierens selbst, diesen kurzen ungeplanten Momenten des wahren Kontrollverlusts, in denen die übersteuerte Energie in absolute Erschöpfung umkippt. Angstauslösende Momente der Nicht-Kontrolle in einer Gesellschaft, für die die Selbstkontrolle — sich selbst der eigene Manager sein — als eine den Erfolg bedingende Grundvoraussetzung gilt. 

Entgrenzte Disziplinierung 

Diese Übernahme äußerer Formen der Disziplinierung, die zur gnadenlosen Selbstbeobachtung und Selbstdisziplinierung führt hat Michel Foucault bereits im Mitte des 20. Jahrhunderts fabelhaft über die Funktionsweise des Panoptikums veranschaulicht und dadurch die Bedeutung der räumlichen Organisation, die die Körper verortet und die Blicke kontrollierend lenkt, demonstriert. Doch die Virtualisierung und Zersplitterung des Raums, die die hyper-Flexibilisierung der post-fordistischen Produktion und die Funktionsweise der Gig-Economy erwirkt, lässt Foucaults Panoptikum, welches sich an einer starren Architektur orientiert, anachronistisch erscheinen. Thomas Mathiesens Begriff des Synoptikums, in dem eben nicht eine/r die vielen, sondern viele eine/n, also mich, beobachten, charakterisiert die heutige Gesellschaft treffender, in der jeder Klick eine ökonomische und emotionale Verwertbarkeit erhält, in der also Quantität zur Existenzgrundlage wird.

Da das Subjekt nun nicht mehr an klar definierten Orten, wie der Fabrik, oder der Schule von Lehrerenden oder Vorarbeiter*innen diszipliniert wird, sondern es die disziplinierenden Vielen, mit dem Smartphone in der Tasche trägt, wird die äußere Disziplinierung und damit die Selbstdisziplinierung räumlichund zeitlich ultimativ entgrenzt.

Selbstentwurf. Entwurf verwerfen. Retry

Der Svoya Mitgliedschaftsvertrag ist verschriftlichter Ausdruck eines unsichtbaren Vertrags, den die neoliberale Gesellschaft vor Jahrzehnten geschlossen hat. Dementsprechend findet auch Margaret Thatcher, zentrale Initiatorin des neoliberalen Wandels, ihren Eingang in die Svoya Performance: ein Bild der Iron lady wird, what an irony, am ironing board stehend, an die Rückwand des Raumes projiziert. Jedoch wird sie nicht als Begründerin des Neoliberalismus vorgestellt, sondern als eine der wenigen weiblichen Führerinnen (in der Performance als Dictatress bezeichnet) in der westlichen Geschichte. Es ist der Teil des Stücks, in dem die Performerin Yana, als Gründerin der Svoya Partei humoristisch vorgestellt wird. Im Format der Late Night Show wird Yana als Gast von der Performerin Sophia, die in diesem Abschnitt als Talkshowmasterin fungiert, jubelnd begrüßt. Karikiert wird dabei nicht nur das TV-Format selbst, sondern auch die positive Besetzung, sowie die selbstverständliche Nutzung des Wortes dictator in seiner weiblichen Form, die im Englischen überhaupt nicht existiert. Yana wird als erfolgreiche Karrierefrau inszeniert, die sich aus der Prekarität der neoliberalen Gesellschaft befreit hat, nun aber ironischerweise deren Ideologie — gesellschaftliche Anerkennung qua Wille und Leistung — durch die Vermarktung ihrer eigenen Erfolgsgeschichte unweigerlich reproduziert. Nach ihrem vergeblichen Kampf um Entlohnung und Wertschätzung als Tänzerin beschloss sie die Svoya-Partei zu gründen und eine dictatress zu werden. Die Komik und Absurdität der Szene — obwohl Frau hier doch bloß großspurig spricht, wie Mann breitbeinig handelt? und obwohl der durch Coaching-Angebote fanatisch genährte Glaube an das Leistungsprinzip doch genau die Illusion der Erreichbarkeit jeglicher Selbstverwirklichungsfantasie forciert? — entlarvt auf geniale Weise die Funktionsweise des neoliberalen Systems, dessen Diktatur sich das Subjekt freiwillig unterwirft. Der unsichtbare neoliberale Gesellschaftsvertrag offenbart durch die dictatress Yana auf geniale Weise seine dominante Stimme und seine Verführungskraft zugleich. Verführt wird das Subjekt von der Freiheit, die der Neoliberalismus verspricht und die das Leid, welches die Konsequenzen dieses Versprechens fordert, überstrahlt.

In der Sehnsucht nach Anerkennung suche das Selbst

Strahlend waren auch die Freiheiten, die die Kontraktualisten des 18. Jahrhunderts für ihre neu entworfenen Gesellschaften imaginierten, auch wenn Frauen, in ihrem Ausschluss aus den Verträgen nie in Geschmack derselben kamen. Als Rousseau 1762 seinen Contrat Social als Antwort auf gesellschaftliche Missstände entwirft, bleiben die weiblichen Unfreien unbeachtet. Große Beachtung aber erhalten die von Rousseau diagnostizierten Ursachen, die für die Unfreiheit seiner weißen männlichen Mitbürger verantwortlich seien. Als Quelle dieser beschreibt er gesellschaftliche Dynamiken, die heute in Reinform in der neoliberalen Gesellschaft anzutreffen sind. In seiner Schrift Abhandlung über die Ungleichheit (1755) sieht Rousseau in der Idee des Privateigentums, die zu Ungerechtigkeit und Neid in der Gesellschaft führe und in der übertriebenen Eigenliebe (Lamour propre) des modernen Individuums, die Ursprünge gesellschaftlicher Misstände begründet. Die Perversion der Lamour propre enstpringe einer egoistischen Gesellschaft und scheint diese zugleich in ihrem unsolidarischen Charakter für ewig zu bestätigen. Das moderne Subjekt handelt, weil durchweg in einem Konkurrenzverhältnis stehend, eigennützig und kann sich seiner Selbst doch nie eigen sein. Permanent um Ansehen ringend, lebt das Individuum außerhalb seiner Selbst, da sich ihr/sein Selbstwert am äußeren Stellenwert bemisst. Anerkennung ist demnach, wie Frederick Neuhouser feststellt, ein „postionales Gut” und generiert sich aus dem Verhältnis der Gesellschaftsmitglieder zueinander, welches es zugleich mitdefiniert. Der natürliche Wunsch nach Anerkennung wird laut Rousseau in der modernen Gesellschaft künstlich pervertiert — und in der Postmoderne? 

Bemessen werden kann heute der eigene Wert auf ganz einfache Weise durch die Anzahl der Likes, der Follower, oder den Rang in der Google-Suche. Die extreme Verschärfung der von Roussau beklagten Dynamiken innerhalb der neoliberalen Gesellschaft zeugen vor allem von der Fetischisierung dessen, was Rousseau gerade als die Ursprünge des Übels kritisierte: Privateigentum und Selbstliebe. Neoliberalismus, das ist die massenhafte Privatisierung und damit Glorifizierung von Eigentum im Zuge der Thatcher-Reagan Ära. Neoliberalismus, das ist die Inszenierung des Selbst für den Anderen und die emotionale und ökonomische Abhängigkeit von der Bewertung desselben im Zuge der Digitalisierung. 

Wenn Rousseau auf Grund der Misstände die er vorfindet, einen Vertrag für eine neue Gesellschaft imaginiert und wenn wiederum der unsichtbare Vertrag, der die heutige neoliberale Gesellschaft konstituiert, gerade das in seine lebenslang verbindliche Satzung schreibt, was Rousseau als Ursache des gesellschaftlichen Übels diskreditiert, wie können wir dann mit diesem neoliberalen Vertrag brechen? Wie können wir uns von seiner Verbindlichkeiten lossagen, die doch so tief internalisiert sind, dass sie unsere Handlungen lenken und unsere Identität bedeuten. Zuallerst gilt es sich, entgegen des egoistischen Unabhängigkeitsversprechens des Neoliberalismus, als überhaupt in einem unsichtbaren Vertragsverhältnis stehend zu begreifen, sich in Relation zum Anderen zu sehen — den Anderen zu sehen. Und dann gilt es sich zu solidarisieren, um sich gemeinsam, über das gespürte und geteilte Leid, das der unsichtbare Vertrag der Vertragslosen mit sich bringt, aus seiner Geisel zu befreien. Die Svoya-Partei ruft auf zur Revolution der Ausgebrannten, jener, die der neoliberale Vertrag betrogen hat. Gemeinsam erschöpfen sich die Erschöpften indem sie am Ende der Performance ihre Körper zusammen zur Ektase steigern, um dann im Kollektiv zu kollabieren. Eine rauschartige Euphorie von Körpern, die sich nicht mit dem System, das sie doch illustrieren, sondern vielmehr miteinander solidarisieren, um für uns eine neue Gesellschaft zu imaginieren. 

Bibliographie

Baudrillard, Jean, For a critique of the political economy of the sign, New York 1981. 
Baudrillard, Jean, Simulacra and Simulation, Michigan 1994 [Frankreich 1981]. 
Bauman, Zygmunt/ Lyon, David, Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung, Berlin 2013. 
Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 2016 [1975].
Frederick Neuhouser, Rousseau  und  das  menschliche  Verlangen  nach  Anerkennung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 56 (2008) 6, S.899-922.
Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Ditzingen 1998 [Frankreich 1755].
Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Berlin 1973